Schmerzcharakterisierung
"Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung
beschrieben wird."
Die Modalität Schmerz umfasst die beiden Qualitäten somatischer und viszeraler Schmerz
Somatischer Schmerz:
- Oberflächenschmerz (Haut)
- Tiefenschmerz (Muskeln, Knochen, Gelenke und Bindegewebe)
Nach der Dauer des Schmerzes unterscheidet man akute und chronische Schmerzen; sie weisen auch Unterschiede in ihrer Bedeutung auf
- Akute Schmerzen: Signal- und/oder Warnfunktion
Akute Schmerzen sind genau lokalisierbar, Schmerz steht in
Zusammenhang mit Intensität der Reizung.
- Chronische Schmerzen (unterschiedliche Ursachen: somatisch,
psychisch etc.) – lang anhaltend oder intermittierend wiederkehrend.
Ein weiteres, unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis ist das Jucken; seine Beziehung zum Schmerz ist ambivalent
Zur Schmerzempfindung tragen sensorische, affektive, vegetative und motorische Komponenten bei
- Sensorische Komponente: noxischer – nicht-noxischer Reiz
- Affektive Komponente: lust- oder unlustbetonte Gefühle
- Vegetative Komponente: vegetative Reaktion auf Schmerz, Stress, Freude etc. – v.a. bei viszeralen Schmerzen.
- Motorische Komponente: Flucht- oder Schutzreflex, Muskelver-spannung bei viszeralen
Schmerzen.
Entscheidend für die Schmerzbewertung ist der Vergleich der aktuellen Schmerzen mit den Schmerzen der Vergangenheit und ihren damaligen Folgen
- Kognitive Komponente: Schmerzäusserungen
(Psychomotorik)
Wir leiden mehr an einem Schmerz, den wir im Hinblick auf unser Wohlergehen als „wichtig“ einschätzen als an einem, der uns (bei gleicher Intensität) banal erscheint.
In die
Schmerzbewertung geht eine ganze Reihe von Faktoren ein: aktuelle soziale Situation, familiärer Background, Erziehung, ethnische Herkunft, äussere Umstände (z.B. Krieg) etc.
Physiologie der peripheren Nozizeption
Die Spezifitätstheorie des Schmerzes geht davon aus, dass Schmerz eine selbständige Empfindung mit einem weitgehend dafür spezialisierten nervösen Apparat von Sensoren, Leitungsbahnen
und Zentren ist
- Nozizeptoren – Sensoren mit einer so hohen Erregungsschwelle, dass sie nur durch gewebeschädigende oder gewebebedrohende Reize aktiviert werden.
- Schmerzpunkte auf der Haut (häufiger
als Druckpunkte!)
Die meisten Nozizeptoren besitzen nichtkorpuskuläre sensorische („freie“) Nervenendigungen; sie sind in vielen Fällen polymodal (mechanische, chemische und thermische Sensibilität)
Die Prozesse der Transduktion und Transformation sind bei der Erregung von Nozizeptoren wahrscheinlich analog denen in anderen Sensoren
Die Schwelle der Nozizeptoren für noxische Reize ist weder für alle Nozizeptoren einheitlich noch für einen gegebenen Nozizeptor konstant
In gesundem Gewebe sind Nozizeptoren entweder hochschwellig (sie lassen sich nur durch Reize höherer Intensität erregen) oder sie sind mechanoinsensitiv (stumme oder „schlafende“ Nozizeptoren).
Ist aber das Organ pathophysiologisch verändert, z.B. durch eine Entzündung, werden Nozizeptoren sensibilisiert.
Die Sensibilisierung erfolgt wahrscheinlich durch Entzündungs-mediatoren, die bei Gewebeläsionen freigesetzt (z.B. Bradykinin, Serotonin) oder vermehrt synthetisiert werden (z.B. Prostaglandine,
Leukotriene).
Die afferenten Axone der Nozizeptoren sind dünn markhaltig (Ad-Fasern) oder marklos (C-Fasern)
Neben der sensorischen Funktion besitzen viele nozizeptive afferente Neurone eine effektorische Funktion; diese spielt eine Rolle bei der neurogenen Entzündung
Freisetzung von Neuropeptiden:
z.B. Substanz P oder Calcitonin gene related peptide. Diese Neuropeptide bewirken entzündungsfördernde Gefässreaktionen. Sie scheinen die Wirkung der
lokalen Entzündungs-mediatoren zu erhöhen und damit den Entzündungsverlauf zu beeinflussen – neurogene Komponente.
Zentralnervöse Weiterleitung und Verarbeitung
In Rückenmark und Hirnstamm werden die afferenten nozizeptiven Zuflüsse auf Neurone aufgeschaltet, deren Axone zu Interneuronen und / oder zum Thalamus ziehen
Nozizeptive Neurone des Rückenmarks projizieren auf spinale Neurone, die in motorische und vegetative Reflexbögen eingebunden sind
- Motorische Reflexe: Flexionsreflexe
- Vegetative Reflexe: vegetatives Abwehrverhalten
- Noxische Reize im tiefen somatischen und im viszeralen Bereich induzieren eher vegetative und neuroendokrine allgemeine Reaktionen, die als Schonhaltungen
gedeutet werden können.
Noxische Reize aktivieren über aufsteigende Bahnen nozizeptive Neurone im Thalamus (Nucleus ventralis lateralis) und Kortex (SI) – eine wesentliche Voraussetzung für das bewusste
Schmerzerlebnis
Supraspinale Neurone projizieren zu Neuronen des Rückenmarks und kontrollieren als deszendierende Hemmung die Verarbeitung des nozizeptiven Einstroms auf Rückenmarksebene – körpereigene
Schmerzabwehr!
Bei einer Entzündung im Gewebe oder bei Nervenschädigungen zeigen nozizeptive Neurone des Zentralnervensystems vielfältige Aenderungen des Entladungsverhaltens – Hyperreaktion!
Zahlreiche Transmitter, Modulatoren und entsprechende Rezeptoren sind an nozizeptiven Vorgängen im Zentralnervensystem beteiligt
- Exzitatorische Aminosäuren: Glutamat
- Allgemeine Hemmung: Glycin und GABA
- Deszendierende Hemmung: 5-Hydroxytryptamin, Noradrenalin und Dopamin
- Koexistenz von Neurotransmittern und Neuropeptiden – Modulation
- Neuropeptide mit exzitatorischer Wirkung: Substanz P
- Neuropeptide mit hemmender Wirkung: Opioide (Encephaline, Dynorphin), Somatostatin etc.
Neurobiologie klinisch häufiger Schmerzformen
Eine häufige Ursache für Schmerzen sind Entzündungen und andere Gewebeschädigungen
- Allodynie: Schmerzen, die durch nichtnoxische Reizung verursacht werden (z.B. Berührung eines Sonnenbrandes mit der Hand)
- Hyperalgesie:erhöhte Empfindlichkeit für noxische Reize
- Hyperästhesie: verstärkte Berührungs- bzw. Thermoempfindung
Akute bzw. chronische Aktivierung von Axonen afferenter nozizeptiver Nervenfaserns kann zu projizierten bzw. neuralgischen Schmerzen führen
- Projizierter Schmerz – Ort der Reizeinwirkung ist nicht identisch mit dem der Schmerzempfindung (z.B. „Narrenbein“)
- Neuralgie – fortgesetzte Reizung eines Nerven oder
einer Hinterwurzel (z.B. durch einen Bandscheibenvorfall)
Noxische Reizung der Eingeweide wird oft nicht oder nicht nur am inneren Organ als Schmerz empfunden, sondern als übertragener Schmerz auch im zugehörigen Dermatom
Bei Schädigung des Zentralnervensystems kann es zu schweren Schmerzzuständen kommen (zentrale Schmerzen)
Teilweise oder völlige Schmerzunempfindlichkeit ist selten
- Hypoalgesie – verringerte Empfindlichkeit auf noxische Reize
- Hypoästhesie – allg. verminderte somatosensorische Sensibilität
- Analgesie – völlige Schmerzunempfindlichkeit
- Anästhesie – allg. Reizunempfindlichkeit
Neurobiologische Aspekte der Schmerztherapie
Zur pharmakologischen Schmerzbehandlung werden neben Analgetika auch Lokalanästhetika und Psychopharmaka eingesetzt
- Nicht-narkotische Schmerzmittel: Stoffe, die analgetisch (schmerz-hemmend) wirken, ohne zu einer deutlichen Einschränkung oder Ausschaltung (Narkose) des Bewusstseins zu führen (z.B.
Azetylsalicylsäure).
Ein Teil dieser Analgetika hemmt den Entzündungsprozess und reduziert dadurch die Aktivierung und Sensibilisierung von Nozizeptoren durch Entzündungsmediatoren (z.B. Prostaglandine).
Sie haben aber auch aktivitätsminderde Wirkungen an den Nozizeptoren und an nozizeptiven Neuronen.
- Narkotische Schmerzmittel: Stoffe, die in der Lage sind, auch starke Schmerzen zu lindern.
Durch ihre stark beruhigende, schläfrig machende Wirkung können bei höherer Dosierung
narkoseähnliche
Zustände auftreten (z.B. Morphin).
- Lokalanästhetika: örtliche Betäubung
- Psychopharmaka: z.B. Antidepressiva
Physikalische Massnahmen der Schmerztherapie haben teils unmittelbare Angriffspunkte, teils wirken sie auf dem Reflexweg
- Physikalische Schmerzbehandlung: Ruhe und Ruhigstellung, Wärme, Kälte, Physiotherapie, Massage etc.
- Elektrische Reizung zur Schmerztherapie: Schmerzen werden oft durch andere, gleichzeitige
Sinnesreize, wie Reiben, Kratzen, Wärme und Kälte, vermindert („Verdeckung“, „Gegenirritation“).
- Neurochirurgische Massnahmen zur Schmerzbekämpfung
Psychologische Methoden der Schmerzbekämpfung dienen v.a. dazu, chronische Schmerzen besser ertragen zu lernen |